Aus Forschung wird Gesundheit.
BIH_Podcast_28_Was hilft bei erblichem Übergewicht?
Interviewpartner: Professor Peter Kühnen, Institut für Experimentelle Pädiatrische Endokrinologie der Charité – Universitätsmedizin Berlin.
Seltmann: Herzlich willkommen zum BIH-Podcast „Aus Forschung wird Gesundheit“ aus dem Berlin Institute of Health, dem BIH. Wir wollen in diesem Podcast Fragen beantworten rund um das Thema Gesundheit und Gesundheitsforschung. Mein Name ist Stefanie Seltmann.
Seltmann: Heute zum Tag der Seltenen Erkrankungen geht es um krankhaftes Übergewicht, die so genannte erblich bedingte Adipositas, ein zum Glück eher seltenes Phänomen, dennoch ein großes Problem für die Betroffenen. Kinder, die an dieser Erbkrankheit leiden, wiegen nicht selten bereits im Grundschulalter 100 Kilogramm und mehr. Wie man ihnen helfen kann, weiß Professor Peter Kühnen, Arzt und Wissenschaftler am Institut für Experimentelle Pädiatrische Endokrinologie der Charité in Berlin.
Seltmann: Herr Professor Kühnen, wie viele Kinder sind von der erblichen Adipositas denn in Deutschland betroffen?
Kühnen: So genau weiß man das zurzeit nicht, aber Daten aus den Vereinigten Staaten lassen darauf schließen, dass etwa 1000 bis 3000 Kinder aktuell in Deutschland sein könnten, die an einer sogenannten Monogenen Adipositasform leiden.
Seltmann: Und worunter leiden denn dann die Kinder konkret? Sie sind stark übergewichtig, haben möglicherweise dadurch auch weitere gesundheitliche und vielleicht auch psychische Probleme?
Kühnen: Übergewicht und Adipositas sind die wichtigsten Risikofaktoren für die Entwicklung von Diabetes beispielsweise und kardiovaskulären Erkrankungen, wie zum Beispiel erhöhtem Blutdruck. Davon abgesehen gibt es Gelenkbeschwerden, die bei diesen Kindern häufiger vorkommen. Abgesehen von diesen körperlichen Beschwerden ist die psychische Belastung von Bedeutung. Da geht es zum Beispiel um Hänseleien in der Schule. Es gibt auch da Daten wieder aus den Vereinigten Staaten, wo beispielsweise auch die Hänseleien durch die Lehrer zu einer starken psychischen Belastungssituation bei den Kindern und auch bei den Familien führen.
Seltmann: Die Krankheit ist ja in diesem Fall erblich, genetisch bedingt. Was genau läuft denn falsch im Erbgut der jungen Patientinnen und Patienten?
Kühnen: Vererbt oder neu entstandene genetische Varianten führen dazu, dass die Signale für unser Sättigungszentrum, also das Signal für „Ich bin satt“ nicht mehr optimal funktionieren. Das heißt, es kann durch die genetische Variante dazu kommen, dass Botenstoffe, die dafür wichtig sind, nicht mehr gebildet werden können oder Bindungsstellen dieser Botenstoffe nicht richtig funktionieren. Und das endet alles in einem vermehrten Hungergefühl, einer sogenannten Hyperphagie und damit dann auch der Entwicklung von dieser Adipositas.
Seltmann: Also diese armen Kinder haben ständig Hunger?
Kühnen: Ja, richtig. Also ein Patient hat das mal mit einem Schatten verglichen, der einen ständig begleitet. Also man kommt nach Hause, und das Erste, was man macht, ist: Man geht zum Kühlschrank. Also ein immer vorhandenes Hungergefühl.
Seltmann: Also das hat nichts mit schlechter Erziehung zu tun, dass diese Kinder dauernd essen?
Kühnen: Nein, das ist tatsächlich dieses Hungergefühl, diese Hyperphagie, die eine unheimlich starke Kraft ist und für Personen von außen ganz schwer vorstellbar ist, wie es ist, mit so einem permanenten Hungergefühl zu leben. Und für die Eltern ist es eine große Herausforderung mit diesen Kindern, weil sie versuchen, das zu reglementieren, dass die Kinder weniger essen, sich mehr bewegen. Aber die Kinder können nicht anders, sondern verlangen nach Essen. Und auch das ist wiederum eine große Belastung dann für die Familien.
Seltmann: Also wenn man etwas dagegen tun möchte, hört man wahrscheinlich von außen zuerst den Rat: mehr Bewegung, weniger essen, am besten Obst und Gemüse. Das hilft in diesem Fall gar nicht?
Kühnen: Leider nein. Es ist sicherlich nicht verkehrt, das auf gar keinen Fall. Aber keinem der Patienten gelingt es längerfristig, dadurch das Körpergewicht zu stabilisieren. Und das ist dann ein großes Problem.
Seltmann: Bei Erwachsenen hilft in sogenannten ganz hartnäckigen Fällen eine chirurgische Magenverkleinerung. Würde das bei diesen Kindern auch etwas bringen? Oder macht man das bei Kindern noch gar nicht?
Kühnen: Es kommt immer häufiger vor, dass man diese Operation auch bei Kindern und Jugendlichen durchführt. In diesem Fall ist es aber so, dass man auch schon im Tiermodell, aber jetzt auch bei Patienten gesehen hat, dass diese Operationen dazu führen, dass kurzzeitig das Körpergewicht weniger wird, reduziert wird und dann aber leider wegen diesem permanenten Hungergefühl das Gewicht leider wieder ansteigt. Also diese Operationen sind nicht erfolgreich.
Seltmann: Jetzt haben Sie durch Ihre Forschungen, weil Sie herausgefunden haben, wo dieser genetische Defekt liegt, ein neues Medikament entwickelt, das genau in diesen fehlerhaften Mechanismus eingreift. Können Sie mal beschreiben, wie das funktioniert?
Kühnen: Alles ist ausgegangen von einer Patientin, der der Botenstoff MSH, Melanozyten-stimulierendes Hormon, fehlt. Und seit man diesen wichtigen Signalweg kennt, das ist jetzt über 20 Jahre her, dass man diesen Signalweg entdeckt hat, haben alle großen Firmen versucht, Präparate zu entwickeln, die da ansetzen. Und diese Patientin aus Berlin, die diesen Botenstoff ganz produzieren kann, die wollte sich operieren lassen. Und als dieser Wunsch geäußert wurde, hatten wir große Bedenken, dass das erfolgreich sein könnte, und deshalb haben wir uns an alle Firmen gewendet, die jemals so versucht haben, solche MSH-Peptide herzustellen. Dazu muss man sagen, dass alle diese Studien in den letzten 20 Jahren gescheitert sind. Entweder, weil die Präparate nicht funktioniert haben oder erfolgreich waren, irgendwie einen Einfluss auf das Sättigungsgefühl zu induzieren, oder sie haben zu schweren, sehr schweren Nebenwirkungen geführt. Durch viele Zufälle kam der Kontakt zu einer Firma zustande, die gerade ihr neues Präparat in sehr früher Entwicklung hatte, in der sogenannten Phase-1-Studie. Und das war der Beginn, dass wir hier an der Charité, weil die Firma das selbst nicht durchführen wollte, diese Studie machen konnten mit den Patienten mit dieser sehr seltenen genetischen Störung und die Firma das Präparat hierfür dann zur Verfügung gestellt hat.
Seltmann: Und wie unterscheidet sich dieses neue Präparat von den bisher verfügbaren Präparaten? Warum hatten Sie die Hoffnung, dass das jetzt funktionieren könnte, wo viele andere zurückliegende Versuche nicht funktioniert haben?
Kühnen: Dieses Präparat aktiviert einen wichtigen Rezeptor für unser Sättigungssignal, und zwar auf eine ganz besondere Art und Weise. Bei diesen Bindungsstellen ist das sehr wichtig, wie der Rezeptor aktiviert wird, weil verschiedene Signalwege aktiviert werden. Man kann es sich ein bisschen so vorstellen wie ein Schiff, das in einen Hafen einfährt und dann verschiedene Züge mit der Ware in verschiedene Richtungen wegfahren. Und so ist das auch bei Rezeptoren. Und bei den früheren Präparaten war es so, dass ein ganz besonderer Signalweg immer aktiviert worden ist, der wahrscheinlich die Nebenwirkung erklärt. Und das ist bei diesem Präparat etwas anders, weil die Signalisierungswege, also die Wege, die Züge nehmen, unterschiedlich ist. Und das kann der entscheidende Punkt sein, weshalb das dazu geführt, dass diese Patientin zum ersten Mal ein Sättigungsgefühl hatte und vor allen Dingen das Präparat auch gut vertragen hat.
Seltmann: Haben Sie denn das Präparat direkt an der Patientin ausprobiert oder haben Sie da erst mal Vorexperimente an Zellen oder vielleicht an Tieren, an Mäusen durchgeführt?
Kühnen: Nein, also gesunde Mäuse hatten das Präparate schon vorher bekommen, und auch gesunde Personen hatten das Präparat schon vorher bekommen. Und dies war die erste Patientin mit diesem Krankheitsbild, was das Präparat dann bekommen hat. Und da waren wir uns am Anfang nicht sicher, ob das funktioniert oder nicht, und haben uns deshalb sehr um die Bedingungen und um die Sicherheit gekümmert.
Seltmann: Und was haben Sie dann beobachtet, hat es funktioniert?
Kühnen: Ja, also wir haben mit einer ganz niedrigen Dosis angefangen und langsam dann die Dosis gesteigert. Und ab einer bestimmten Dosis hat die Patientin mich auf einmal angerufen und gesagt: „Ich bin zum ersten Mal satt.“ Und das war ganz besonders. Und dann hat es sehr gut funktioniert. Die Patientin hat deutlich weniger gegessen und dann in den ersten drei Monaten 24 Kilo verloren und hat dadurch, und das ist vielleicht sogar ein bisschen wichtiger als die Gewichtszahl, ein Plus, eine deutlich verbesserte Lebensqualität dadurch entwickelt, weil dieses Hyperphagie-Gefühl, also dieses omnipräsente Hungergefühl weggefallen ist.
Seltmann: Wie alt war denn die Patientin und wieviel wog sie vorher?
Kühnen: Also sie wog 150 Kilo oder 155 Kilo und wiegt jetzt etwa 80 Kilo und ist damit nahezu normalgewichtig. Und war 18 Jahre, also erwachsen. Und das war auch eine Bedingung. Also wir mussten mit erwachsenen Personen beginnen und konnten dann im Verlauf nicht Erwachsene einschließen.
Seltmann: Und bei anderen Patientinnen und Patienten hat es auch funktioniert? Oder war das jetzt das Paradebeispiel?
Kühnen: Also inzwischen ist die Phase-3-Studie auch abgeschlossen und alle Patienten, denen der Botenstoff komplett fehlt, die haben alle so reagiert. Im Verlauf haben wir dann noch andere Patienten eingeschlossen, denen jetzt der Botenstoff per se nicht fehlt, aber die ein Problem in dieser Signalkaskade haben. Und da funktioniert es auch, nicht so eindrücklich, aber da kommt es auch dazu, dass das Hungergefühl weniger wird und die Patienten an Gewicht verlieren.
Seltmann: Wie viele Patienten haben Sie denn da eingeschlossen? Wenn es eine seltene Erkrankung ist, ist es wahrscheinlich gar nicht so leicht, genügend Patienten für eine klinische Studie zu finden?
Kühnen: Richtig. Also die Vorgabe für die Zulassungsstudien waren, dass mindestens zehn Personen eingeschlossen werden. Und das wurde dann multizentrisch weltweit dann gemacht und hat dann auch gut funktioniert.
Seltmann: Das heißt, weltweit mussten Sie dann nach Kollegen suchen, die eben auch solche Patientinnen und Patienten behandeln?
Kühnen: Die Phase-3-Studie wurde dann durch die Firma gemacht, aber zum Beispiel für die Charité-Studie kommen die Patienten aus Paris beispielsweise, aus Cambridge, damit man dieses Problem umgeht, dass man zu wenige Patienten dann hier vor Ort in Berlin hat.
Seltmann: Haben Sie denn auch Nebenwirkungen beobachtet?
Kühnen: Ja, also die entscheidende Nebenwirkung erklärt sich dadurch, dass der Rezeptor für unser Sättigungsgefühl sehr ähnlich ist dem Rezeptor, der unsere Haut dunkel macht. Also der Rezeptor, der zuständig ist für unser Sättigungsgefühl, heißt Melanocortin-4-Rezeptor. Und der Melanocortin-1-Rezeptor ist der, der unsere Haut dunkel macht. Und das führt dazu, weil er eben auch etwas aktiviert wird, dass die Haut dunkler wird. Und wenn jemand vorher rote Haare hat, dann dunkeln die Haare und werden dann im Verlauf der Therapie bräunlich.
Seltmann: Und leiden die Patientinnen darunter oder die Patienten oder ist es denen egal, Hauptsache, das Gewicht wird verloren?
Kühnen: Das ist eine gute Frage. Also die allerallermeisten Patienten und Patientinnen haben damit kein Problem. Es gibt aber Fälle, wo das, gerade wenn der familiäre Hintergrund aus dem nordafrikanischen Bereich kommt, dann wird die Haut sehr dunkel. Und das ist dann auch ein Problem für die Patientinnen und Patienten. Das ist schwierig. Und das muss dann auch mit psychologischer Unterstützung besprochen werden und diskutiert werden, inwieweit man dann die Therapie weiterführt oder ob man die Therapie beendet, weil dann wird die Haut auch wieder heller.
Seltmann: Wäre das eine Idee, dass man da in diese Richtung weiter forscht und weiterentwickelt und vielleicht eine Substanz findet, die nur speziell diesen Melanocortin-Rezeptor aktiviert, der fürs Hungergefühl zuständig ist, und nicht den, der für die Hautfarbe zuständig ist?
Kühnen: Richtig. Also daran arbeiten wir auch. Also das ist das Ziel, und das ist ein ganz wichtiger Punkt, den Sie ansprechen. Das muss das Ziel sein, dass man einen selektiven Melanocortin-4-Rezeptor etabliert, der ein ähnliches Signalverhalten hat, sodass dann tatsächlich diese Nebenwirkung wegfällt.
Seltmann: Im Berlin Institute of Health gibt es das BIH-Spark-Programm, das Sie bei der Entwicklung dieses Medikaments auch unterstützt hat. Wie genau sah denn diese Unterstützung aus?
Kühnen: Hier ging es um eine finanzielle Unterstützung der klinischen Studie. Und hier möchte ich mich noch mal für diese Unterstützung bedanken beim ganzen Spark-Team und beim BIH, weil ohne diese Unterstützung wäre die Studie nicht möglich gewesen, die jetzt nicht von einer Firma finanziell gesteuert worden ist, sondern richtig wirklich von der Charité durchgeführt worden ist. Durch diese finanzielle Unterstützung konnten die Untersuchungen durchgeführt werden, die Patienten und Patientinnen konnten nach Berlin kommen, und das Studienteam konnte davon bezahlt werden.
Seltmann: Gibt es das Medikament mittlerweile schon zugelassen auf dem Markt, kann es schon verschrieben werden?
Kühnen: Im November ist es von der amerikanischen Behörde FDA zugelassen worden für zwei bestimmte Indikationen. Und jetzt ist es gerade bei der europäischen Behörde im Zulassungsprozess.
Seltmann: Und wie funktioniert denn die Einnahme? Muss man das täglich einnehmen über einen längeren Zeitraum? Muss man das möglicherweise lebenslang einnehmen, weil sobald man es absetzt, kommt das Hungergefühl wieder zurück?
Kühnen: Ja, das ist tatsächlich so, dass man das lebenslang einnehmen muss, weil, wenn man die Medikation unterbricht, dann kommt es nach etwa zwei bis drei Tagen dazu, dass das Hungergefühl wieder ansteigt. Man muss es einmal am Tag spritzen.
Seltmann: Spritzen sogar? Das heißt, man muss zum Arzt oder kann man sich das selbst setzen wie so eine Insulinspritze?
Kühnen: Das kann man selbst machen. Die Patienten spritzen sich selber ins Unterhautfettgewebe, das ist ähnlich wie bei diesen Antithrombosespritzen, dass man einmal am Tag diese Injektion durchführt.
Seltmann: Jetzt machen sich vielleicht ja auch andere übergewichtige Patientinnen und Patienten Hoffnung, die vielleicht keinen Gendefekt haben oder einen anderen Gendefekt haben, dass auch sie von dieser neuen Medikation profitieren könnten. Gibt es da Hoffnung?
Kühnen: Grundsätzlich ist das Medikament kein Wundermittel. Also es funktioniert, wenn dieser Signalweg ein Problem hat oder eingeschränkt ist. Und eindeutig genetische Ursachen für eine Adipositas-Entwicklung sind selten. Aber was es gibt, sind häufige Varianten in den gleichen Genen, die dazu führen, dass vielleicht das Gen nicht komplett in der Funktion eingeschränkt ist, sondern nur teilweise und damit ein erhöhtes Risiko für die individuelle Person entsteht, dass man Adipositas im Lauf des Lebens entwickelt, also das Stück Kuchen nur angucken muss, damit man schon an Gewicht zunimmt. Und wenn das dazu führen würde, dass auch milde genetische Varianten zu einer Einschränkung von dem Signalweg führen, dann kann es sein, dass auch für diese Personen das Medikament eine Option wäre. Dann aber nicht als alleinige Therapie, sondern dann vielleicht im Rahmen einer multimodalen Therapie mit einem Programm, wo man zu vermehrter Bewegung angeleitet wird und das Essverhalten sich ändert.
Seltmann: Jetzt sind wir ja im Zeitalter von Genscheren, CRISPR/Cas hat im letzten Oktober den Nobelpreis bekommen, Emmanuelle Charpentier, die ja auch in Berlin ist. Und Sie haben von Gendefekt besprochen. Also in diesem Gen, in dem Erbgut scheint ein Fehler drin zu sein. Könnte man das auch direkt vor Ort reparieren mit einem genetischen Eingriff?
Kühnen: Das ist natürlich extrem spannend, dieses Feld, und es wäre wunderbar, wenn man in Zukunft das machen könnte. Inwieweit das wirklich dann als Therapie eingesetzt wird mittelfristig oder langfristig, das werden wir sehen. Aber es ist sicherlich ein Bereich, der dafür sehr, sehr spannend ist.
Seltmann: Jetzt sind wir ja gerade im Frühling, und die ersten Sonnenstrahlen kommen raus, und so mancher denkt vielleicht auch über eine Frühjahrsdiät nach. Wäre dieses Medikament auch geeignet, dass man es vielleicht einfach mal zwei, drei Wochen nimmt, in dieser Zeit weniger Hunger verspürt und zwei, drei Kilo abnimmt, damit man wieder die richtige Bikinifigur hat?
Kühnen: Vermutlich nicht. Es ist so, dass unser Körpergewicht oder unser Körper und unser Gewichtszentrum in einem Gebiet, das heißt Hypothalamus, weiß ziemlich genau, welches Gewicht wir haben sollen. Und es ist stärker reguliert, als uns das vielleicht lieb ist. Man nennt das Gewicht-Setpoint. Und das erklärt diesen Jojoeffekt, den man dann manchmal erlebt, wenn man zum Beispiel in einer Reha-Maßnahme war oder wenn man eine Diät gemacht hat, wenn sich nicht etwas Grundsätzliches ändert ... ist das Ursprungsgewicht sehr schnell wieder erreicht. Da ist es leider so, dass man eher gucken muss, dass man langfristig Umgebungsfaktoren ändert oder Gewohnheiten ändert, damit man immer in Bewegung bleibt und genug Energie verbrennt bzw. erst gar nicht zu viel Energie aufnimmt im Sinne von zu kalorienreicher Ernährung oder Getränke.
Seltmann: Also leider nichts für den ganz breiten Masseneinsatz?
Kühnen: Nein, vermutlich nicht.
Seltmann: Gibt es weitere ... Das frage ich vielleicht noch. Gibt es weitere Gendefekte, die Sie sich vorstellen könnten, die man so therapeutisch angehen könnte, wie Sie das jetzt mit diesem Gendefekt gemacht haben, die ebenfalls für Adipositas verantwortlich sind?
Kühnen: Also unsere Studien haben auf genetische Störungen in dem Sättigungssignalweg geschaut. Es gibt aber besondere Erkrankungen, die man syndromale Erkrankungen nenn. Da gibt es Erkrankungen, die heißen zum Beispiel Bardet-Biedl-Syndrom, alles seltene Erkrankungen, die nicht nur dazu führen, dass diese Patienten ein vermehrtes Hungergefühl haben, sondern auch andere Störungen, zum Beispiel Sehstörungen oder auch Herzfehlbildungen. Und hierzu gibt es gerade laufende Studien, nicht von der Charité, aber von einer Firma in Phase-2- und Phase-3-Studien, da wird dieses Medikament eingesetzt, um zu schauen, ob auch diese Patientengruppen von diesem Medikament profitieren.
Seltmann: Ja, vielen Dank für das Interview!
Kühnen: Vielen Dank!
Seltmann: Und das war der BIH-Podcast „Aus Forschung wird Gesundheit“ aus dem Berlin Institute of Health, dem BIH. Professor Peter Kühnen erklärte, wie man jungen Patientinnen und Patienten mit angeborenem Übergewicht helfen kann. Falls auch Sie eine Frage zur Gesundheit oder zur Gesundheitsforschung haben, schicken Sie sie gerne an podcast@bihealth.de Tschüss und bis zum nächsten Mal sagt Stefanie Seltmann.