Aus Forschung wird Gesundheit.
BIH_Podcast_36_Was ist Interoperabilität?
Interviewpartner: Prof. Sylvia Thun, Professorin für Digitale Medizin und Interoperabilität und Direktorin der Core Unit eHealth und Interoperabilität am Berlin Institute of Health in der Charité (BIH).
Seltmann: Herzlich willkommen zum BIH-Podcast „Aus Forschung wird Gesundheit“ aus dem Berlin Institute of Health in der Charité, dem BIH. Wir wollen in diesem Podcast Fragen beantworten rund um das Thema Gesundheit und Gesundheitsforschung. Mein Name ist Stefanie Seltmann.
Seltmann: Heute bin ich zu Gast bei Professorin Sylvia Thun, Professorin für Digitale Medizin und Interoperabilität und Direktorin der Core Unit eHealth und Interoperabilität am BIH. Sylvia Thun hat gerade das Bundesverdienstkreuz am Bande verliehen bekommen, für ihre Verdienste um das Management von medizinischen Daten. Die entstehen nämlich jeden Tag in großen Mengen, nur können sie leider oft noch nicht genutzt werden. Und genau das möchte Sylvia Thun ändern. Guten Tag, Frau Thun.
Sylvia Thun: Hallo.
Seltmann: Frau Thun, was heißt Interoperabilität?
Sylvia Thun: Interoperabilität ist etwas ganz Wichtiges. Letztendlich geht es um Kommunikation und darum, dass man sich versteht, und zwar in bestimmten Bereichen, wie der Medizin, und hier, dass man die Daten austauschen kann und dass sowohl Menschen als auch Maschinen, also Rechner, diese Daten interpretieren können und weiterverarbeiten können.
Seltmann: Um welche Daten geht es denn da genau?
Sylvia Thun: Es geht um vielfältige Daten. Daten über Arzneimittel, über Medizinprodukte, über die Sicherheit, aber natürlich auch Daten von Menschen, von Patienten. Und da gibt es natürlich umfangreiche Daten, die wir benutzen, um eben gezielte Therapie und Diagnostik zu ermöglichen und die Prävention auch zu stärken. Das sind zum Beispiel Laborwerte, Medikationsdaten, aber auch genomische Daten.
Seltmann: Und was genau bedeutet jetzt die Interoperabilität in diesem Zusammenhang? Die ermöglicht dann die Kommunikation?
Sylvia Thun: Die Interoperabilität ist letztendlich ein Werkzeug. Dieses Werkzeug wird weltweit auch hergestellt durch sogenannte Standardisierungsorganisationen wie ISO, CEN oder DIN. Und hier gibt es in dem Bereich der Gesundheitsforschung und auch der Gesundheitsversorgung ganz spezielle Organisationen, wie zum Beispiel Health Level 7 oder DICOM, die sich um die Interoperabilität dieser Daten für die Versorgung, Forschung oder für die Interoperabilität von Bilddaten kümmern. Und hinter diesen Organisationen stehen einerseits Technologien, andererseits natürlich Menschen, die miteinander arbeiten möchten und ein weltweites Netzwerk haben.
Seltmann: Also es geht um die Standardisierung von Daten, damit man Daten aus verschiedenen Quellen miteinander verwenden kann?
Sylvia Thun: Genau. Es geht um eine Standardisierung von Daten und um auch die Definition neuer Erkenntnisse in der Medizin zum Beispiel. Und wir kennen alle die ICD 10, die International Classification of Diseases. Und hier zeigt zum Beispiel die WHO, wie man weltweit die Erkrankungen klassifizieren kann, zum Beispiel zu dem Zweck, dass man Todesursachen eindeutig aufschreibt, dokumentieren kann und hinterher auch auswerten kann, also analysieren kann.
Seltmann: Das heißt, jede Krankheit, jede Diagnose hat eine bestimmte Nummer, die weltweit gilt?
Sylvia Thun: Genau. Und so arbeiten natürlich auch Computer, dass eben einerseits der Begriff eindeutig ist, und dieser Begriff bekommt eine sogenannte ID.
Seltmann: Und jetzt wollen Sie noch einen Schritt weitergehen und nicht nur den Krankheiten und Diagnosen eine einheitliche, standardisierte Nummer geben, sondern auch noch anderen Daten, die im medizinischen Alltag entstehen oder im medizinischen Forschungsalltag auch?
Sylvia Thun: Genau. Zum Beispiel Labordaten. Und da gehört natürlich noch mehr dazu. Einerseits das medizinische Fachwissen oder das Fachwissen einer medizinischen Domäne. Wir brauchen natürlich auch Austauschstandards, das heißt, eine sogenannte Grammatik, wie man eben Daten von einem System in das andere überführt. Und das ist gar nicht so einfach, weil wir uns ja einerseits weltweit einigen müssen und man sich auch vorstellen kann, dass natürlich Dinge in verschiedenen Umgebungen anders interpretiert werden. Zum Beispiel in einem anderen Land wird eine andere Prozedur durchgeführt als in einem Land wie in Deutschland. Und man muss sich natürlich auch hier in einem weltweiten Netzwerk einigen. Und das ist, wie wir alle wissen, manchmal gar nicht so einfach.
Seltmann: Können Sie mal ein Beispiel nennen, wo solche standardisierten Daten eine Rolle spielen oder wo es ein Problem gibt, wenn sie nicht standardisiert sind?
Sylvia Thun: Ja, wir haben natürlich jetzt das Beispiel vor Augen. Viele haben ja die Corona-Warnapp im Einsatz. Und da sind die Daten, die dahinterliegen und die in dieser App vorhanden sind, standardisiert, über einen Beschluss der Europäischen Kommission, wie man diese Daten zu dokumentieren hat, und wie man zum Beispiel einen positiven PCR-Test aufzuschreiben hat in den Softwaresystemen und welche ID dieser positive PCR-Test hat. Und wir alle wissen, dass es verschiedene Tests gibt für die COVID-19-Erkrankung. Und das sind mittlerweile über 300 verschiedene Codes, die wir benutzen und die wir immer wieder neu auch in die sogenannten Terminologien miteinbringen. Also es wird im Prinzip ein Wissensnetz geschaffen auf Basis von den Erkenntnissen der Wissenschaftler, und dieses Wissensnetz wiederum wird weitergegeben an die Versorgung oder an jetzt den Use Case Corona oder die Corona Warnapp oder an das Robert-Koch-Institut, die auch wiederum mit denselben IDs arbeiten, um dann Analysen durchführen zu können.
Seltmann: Da waren Sie ja schon beteiligt? Da haben Sie einen Standarddatensatz für COVID-19-Patientinnen und -Patienten erstellt oder miterstellt. Was genau beinhaltet denn so ein Standarddatensatz und warum war das wichtig?
Sylvia Thun: Standarddatensätze gibt es in vielen Bereichen. Und warum sind diese so wichtig? Dass man eben hier auch zusammenarbeiten kann und verschiedene klinische Studien zum Beispiel vergleichen kann oder Daten überhaupt an jemand anderes überführen kann, zum Beispiel die Daten aus dem Labor direkt weitergeben kann über die zuständigen Behörden an das Robert-Koch-Institut, die dann ganz genau wissen: Ah, da ist folgender Test durchgeführt worden. Und mit ganz klaren grammatikalischen Vorgaben, also auch zum Beispiel, wie man die Strukturen in den Datenelementen zum Beispiel vorhält, weitergeleitet werden. Und warum brauchen wir das? Wir wollen vor allen Dingen in diesen Situationen zusammenarbeiten. Wissenschaftler kooperieren, möchten weltweit Erkenntnisse austauschen. Und dafür braucht es eben diese FAIRen Daten, FAIR, also findable, accessible, interoperable and reusable, und die Möglichkeit, hier auf einer gleichen Basis zu arbeiten. Und hier sind zum Beispiel in dem sogenannten deutschen Corona-Datensatz Elemente, die einerseits von der WHO vorgegeben worden sind, und andererseits Elemente, die unsere deutschen Wissenschaftler besonders wichtig finden, wie zum Beispiel bestimmte Laborwerte in Zusammenhang mit Corona oder Long COVID. Und so haben wir dann die Möglichkeit, dass verschiedene Software - Hersteller oder verschiedene Wissenschaftler auch immer wieder die gleichen Fragen in einer gleichen Struktur stellen können. Und so sind sie eben dann vergleichbar.
Seltmann: Also, wenn man zum Beispiel eine Therapie entwickeln möchte für COVID-19, dann ist es sinnvoll, wenn man auf die Daten von allen COVID-19-Patienten in Deutschland oder, wie Sie sagen, sogar weltweit zurückgreifen kann, weil man dann natürlich auch besser und schneller eine Therapie entwickeln kann, vielleicht auch zum Beobachten von Nebenwirkungen?
Sylvia Thun: Genau. Und das ist genau so passiert. Also dieser Corona-Datensatz, der nationale, wurde jetzt auch genutzt in einem europäischen Projekt ORCHESTRA, wo Daten aus der ganzen Welt zusammengeführt und harmonisiert werden auf diesen Corona-Datensatz, um zum Beispiel wissenschaftliche Fragen nach Indikation, Nebenwirkungen, Wechselwirkungen von Medikamenten ganz genau zu beantworten mit solchen Datensätzen.
Seltmann: Und jetzt wäre Ihr Plan, das eben nicht nur für die COVID-19-Krankheit zu haben, solche standardisierten Datensätze, sondern möglichst für alle Krankheiten? Ist das nicht ein Riesenprojekt? Oder kann man aufbauen auf dem, was man in diesem Präzedenzfall erreicht hat?
Sylvia Thun: Genau, wir bauen natürlich auf den bereits vorhandenen Erkenntnissen auf. Also wir haben ja auch bei dem Corona-Datensatz nicht neu angefangen, sondern haben die Erkenntnisse benutzt, die es schon gab in dieser weltweiten Community, um dann genau wie in einem Baukastensystem diese Bausteine, die man benötigt für diese Fragestellung für die Corona-Pandemie, eben zusammenzufügen. Und dasselbe machen wir jetzt in vielen anderen Domänen. Und das ist neu, und das ist viel Arbeit und braucht sehr viele medizinische Fachexpertise dazu und natürlich auch viel Technikexpertise. Und das vereinen wir mit meinen Mitarbeitern, die hier schon mehrere Jahre in dem Bereich tätig sind und die vor allen Dingen auch international hier den Standard mitgestalten. Und natürlich sind das Riesenprojekte, aber wir müssen die angehen, um eben diese Daten zu erhalten. Und ich meine, wir haben ja nicht nur eine Pandemie, sondern wir haben diese großen Krankheiten und die Fragestellungen danach, warum Therapien wirken, andere Therapien nicht wirken. Oder die Suche nach den Patienten mit sogenannten seltenen Erkrankungen, die gestaltet sich extrem schwierig, weil die Krankheiten zum Beispiel noch gar keinen Namen bekommen haben oder diese Namen in Deutschland gar nicht eingesetzt werden. Und so gehen wir Schritt für Schritt jetzt den Weg, mittlerweile sehr schnell, weil wir uns eben auch in Deutschland auf Standards geeinigt haben und Zuständigkeiten bei den Behörden haben, die diese Spezifikationen erstellen zusammen mit uns und der Medizininformatik-Initiative, um dann diese Fragen beantworten zu können.
Seltmann: Die Politik hat es offensichtlich erkannt, die Bedeutung der Interoperabilität und der standardisierten Daten. Wie ist das denn bei den Beteiligten auf der Seite der Ärzte oder der Wissenschaftler*innen? Sind die immer so ganz begeistert, wenn die jetzt plötzlich alles standardisiert ausfüllen müssen und nicht mehr auf Papier ihre Diagnosen schreiben können?
Sylvia Thun: Ja, ich bin davon überzeugt, dass die begeistert wären, wenn sie wüssten, wie einfach das ist. Es ist natürlich so, dass das ein Prozess ist, also eine Transformation. Man sagt ja immer so schön: Digitale Transformation heißt ja nicht nur, dass ich jetzt zum Beispiel mein Rezept digital bekomme, sondern dass ich ein ganz neues Denken habe. Also das Denken, dass ich mit einer Sprache umgehen kann, die weltweit im Einsatz ist, wie die ICD 10 oder SNOMED CD, LOINC, diese Sprachen, die man benutzen kann für verschiedene Dinge, wie zum Beispiel Patientenakte oder die klinischen Studien, um dann wirklich präzise und gute Daten zu erzeugen. Und ich denke, sowas gehört auch mit in ein Medizinstudium, dass man genau das beibringt, um hinterher – und wir wissen, wie wichtig das ist – dann auch mit diesen Daten umgehen zu können.
Seltmann: Diese Daten werden erstellt von Menschen wie Ihnen, und Ärzte und Wissenschaftler sollen damit arbeiten und sie auch mit erstellen, ihre Daten standardisiert eingeben. Wie sieht der Zugang aus für Patientinnen und Patienten? Für die sind diese Daten ja auch interessant. Es ist ja auch toll, wenn ich als Patient meine Daten in standardisierter Form habe und sie einem anderen Arzt, einem Spezialisten zeigen kann, der dann eben ganz schnell erfassen kann, was mir fehlt, auf welche Nebenwirkungen er möglicherweise achten sollte.
Sylvia Thun: Absolut. Und das werden wir alle noch erleben, dass wir nämlich wirklich unsere eigenen Daten zur Verfügung haben, also die nicht nur als Arztbrief zum Beispiel abspeichern können in unserer Patientenakte, die es ja schon gibt, die aber noch nicht so stark genutzt wird, sondern wirklich Daten zurückbekommen, Daten zum Beispiel aus Wearables, also aus einer Watch, oder die Daten, unsere Labordaten oder sogar unsere genetischen Daten, und damit auch eigene Erkenntnisse generieren, also dass wir vielleicht gar nicht den Arzt konsultieren, sondern eine Wissensplattform konsultieren und dementsprechend dann mehr Wissen über uns und über unsere Gesundheit und Krankheit auch erlangen. Also ein Beispiel wäre, ein ganz einfaches Beispiel, was ja heute auch schon so ist, wäre zum Beispiel der HB1C-Wert oder der Blutinsulinwert, der ja auch über verschiedene Apps mittlerweile und über die sogenannten DIGAs, die digitalen Gesundheitsanwendungen, uns verfügbar gemacht wird. Und dann kann ich dementsprechend meine Medikation nehmen. Und das ist ja genau das, wo wir eigentlich bei allen Krankheiten hinmöchten und dann vielleicht nur noch in Ausnahmefällen den Arzt konsultieren möchten, der vielleicht sogar dann über ein telemedizinisches Netzwerk sofort zur Verfügung steht, falls eine Frage aufkäme.
Seltmann: Man gibt seine Blutwerte sozusagen in den Computer ein, und der spuckt einem die mögliche Therapie oder Verhaltensvorschlag aus, da sind wahrscheinlich nicht alle Ärzte so ganz begeistert von dieser Idee?
Sylvia Thun: Doch, ich denke, dass die innovativen, modernen Ärzte begeistert sind von der Idee. Und es ist ja eher ein Problem des Abrechnungssystems als ein Problem der Ärzte, die keine Modernisierung möchten. Ich bin davon überzeugt, dass eigentlich alle Ärzte und Ärztinnen das Beste für ihre Patientinnen und Patienten möchten. Und dazu gehört natürlich auch der Umgang mit den Daten und mit dem weltweiten Wissen. Und diese Daten, das sind diejenigen, die uns nämlich dieses Wissen eröffnen. Und deswegen bin ich davon überzeugt, dass eigentlich jeder das möchte, aber unser Gesundheitssystem und unser Abrechnungssystem vielleicht modernisiert werden muss.
Seltmann: Gleichzeitig ist es ja auch wichtig, dass die Daten gut geschützt sind und nur derjenige Arzt oder Forscher auf die Daten Zugriff hat, dem der Patient oder die Patientin das auch erlaubt hat. Kann man die Daten so gut schützen?
Sylvia Thun: Also die Daten in der deutschen Infrastruktur, die werden extrem gut geschützt. Wo man natürlich nichts versprechen darf, ist, dass Verschlüsselungsmechanismen vielleicht in zehn Jahren aufgebrochen werden können durch neue Technologien. Das ist klar. Es stellt sich natürlich die Frage, was denn eigentlich passiert? Nehmen wir mal an, Daten würden tatsächlich jetzt geklaut werden oder der Pharmaindustrie zur Verfügung gestellt werden, die zumeist natürlich auch anonymisiert sind. Was passiert? Also vielleicht braucht man ein anderes Denken, dass man nicht mehr so große Angst hat davor, dass man seine Daten quasi verlieren kann oder spendet und dann sie verliert, denn es ist ja gar nicht so. Die sind ja weiterhin da. Und vielleicht braucht man eher etwas, was das nicht auf technischer Ebene reguliert, sondern auf gesellschaftlicher Ebene, dass die Menschen, die Zugriff sich ermöglichen auf Daten, die eigentlich gar nicht für sie gedacht waren, dann mit hohen Strafen belegt werden. So könnte man ein bisschen anders damit umgehen und vielleicht das Vertrauen herstellen in die eigenen Daten und in die Möglichkeit, auch Daten für Forschungszwecke zur Verfügung zu stellen.
Seltmann: Sie haben schon als Studentin in Aachen dafür gesorgt, dass das damals noch sehr junge Internet allen Kommilitoninnen und Kommilitonen zur Verfügung steht. Warum war Ihnen das wichtig, dass sich die Studenten digital vernetzen?
Sylvia Thun: Das war 1998, und es gab ein Hochleistungsnetz an der RWTH Aachen, und die Studentenwohnheime waren nicht angeschlossen. Und so haben wir uns organisiert als Studenten und Studentinnen in dem großen Studentenwohnheim und haben das selbst in die Hand genommen, selbst die Kabel organisiert und unseren Linux-Server aufgebaut und dann das Netz an das Hochleistungsnetz angeschlossen der RWTH Aachen. Ja, warum ist das wichtig? Das ist wichtig, weil natürlich jeder für sich einen Vorteil hatte. Wir wollten zusammen feiern, Musik hören und auch zusammen die neuen Technologien ausprobieren. Und das heißt, wir hatten einen unmittelbaren Nutzen. Und wir wollten natürlich auch an dem Hochleistungsnetz der RWTH Aachen teilnehmen und so auch hier ermöglichen, dass jeder Student, jede Studentin, die dort ein Zimmer hatte, dann an der neuen Technologie teilhat.
Seltmann: Frau Thun, Sie kümmern sich ja schon Ihr halbes Leben und Ihr ganzes Berufsleben um Interoperabilität. Wenn Sie das vergleichen zu vor 20 Jahren, wie weit sind Sie gekommen?
Sylvia Thun: Wir sind sehr weit gekommen. Also nicht ich bin weit gekommen, sondern die weltweite Community ist sehr weit gekommen. Es gibt großartige Projekte und Länder, die uns gezeigt haben, wie gut es funktionieren kann, wenn man zusammenarbeitet, kooperiert, etwas Gutes im Sinn hat mit der Digitalisierung und der Interoperabilität, die da natürlich ganz wichtig dabei ist. Und die haben uns gezeigt, dass die Medizin einfach besser wurde. Und das ist das, was mich treibt. Ich möchte, dass die Medizin noch besser wird, und natürlich, dass Ärzte und Ärztinnen, aber auch Pflegekräfte und Therapeuten, Therapeutinnen nicht mehr so viel dokumentieren müssen, also immer wieder gleiche Dinge dokumentieren müssen und dadurch wertvolle Arbeitszeit verlieren, die sie eigentlich mit den Patienten und Patientinnen verbringen sollten.
Seltmann: Trotzdem gibt es auch noch Defizite. Es ist immer noch davon die Rede, dass Deutschland nicht gerade den ersten Platz belegt in der Digitalisierung im Gesundheitswesen. Wie könnte man da noch schneller vorankommen? Oder anders gefragt: Wo hakt es denn?
Sylvia Thun: Ja, natürlich gibt es Defizite. Und Deutschland ist sicherlich nicht das Vorzeigeland der Digitalisierung. Aber das ändert sich gerade rasant. Es gibt zum Beispiel das Interop Council for Digital Health, ...
Seltmann: Das Sie leiten.
Sylvia Thun: ... ja, das ich jetzt leite seit Dezember 2021, um dort diejenigen zusammenzubringen, die hier die Expertise haben, die die Interoperabilität vorantreiben möchten, wie die Industrie, die Wissenschaftler und die zuständigen Behörden. Und natürlich ist das eingesetzt worden vom Bundesministerium für Gesundheit, die wirklich sehr gut verstanden haben, worum es geht bei der Digitalisierung, nämlich um Kommunikation, um Zusammenarbeit und natürlich um tiefe Technologien, die wir endlich hier mal in Deutschland einsetzen müssen. Und das ist ein Riesenschritt und ein guter und ehrlicher und zielführender Schritt jetzt gewesen. Und es gab natürlich viele, viele Gesetze, die immer wieder gemacht worden sind, aber die schwer umsetzbar waren für die Industrie, weil man vielleicht die Industrie oder diejenigen, die dann wirklich auch die Daten eingeben müssen, nicht mitgenommen hat. Und wir haben jetzt gezeigt hier in der Charité mit der Einführung von LOINC, das ist eine Terminologie für Laborparameter und genetische Tests und Patient Related Outcome Measurements, dass sowas gut funktionieren kann, wenn man zusammenarbeitet. Hier gibt es eine sogenannte FHIR-Umgebung. FHIR steht für Fast Healthcare Interoperability Resources. Das ist der neue Standard, der gesetzt ist, hier in Deutschland. Da machen wir einen sogenannten Jump Start, das heißt, wir sind von 0 auf 150 gestartet und haben sehr, sehr viele gute Spezifikationen erstellt. Und das aber immer wieder zusammen mit allen, die dazu gehören, vor allen Dingen hier mit den Fachexperten, und nicht im stillen Kämmerchen irgendwelche Vorgaben gemacht, die dann doch keiner einhalten kann, weder Software-Hersteller noch diejenigen, die eben für die Dateneingaben auch zuständig sind. Und jetzt ist es neu, alle sind dabei. Wir machen zum Beispiel derzeit den pathologischen Befundbericht zusammen mit der Deutschen Gesellschaft für Pathologie in Großprojekten, in wissenschaftlichen Großprojekten, um dann endlich einen strukturierten Befundbericht zu haben, der aber auch von der Software-Industrie anerkannt wird, vom BMG auch gefordert wird. Über das Interop Council in Zukunft werden eben weitere Vorgaben gemacht, die aber sinnvoll sind und international interoperabel. Das heißt, der Hersteller hat einen Vorteil dadurch, dass er diese Technologie schon hat, diese verkaufen kann auch in anderen Ländern. Und so stärken wir auch unsere deutsche Wirtschaft.
Seltmann: Sie sind auf dem Gebiet der Medizininformatik oder der digitalen Medizin als Frau eher eine Ausnahme. Wie männlich geprägt ist dieses Feld? Oder spielt das gar keine Rolle mehr?
Sylvia Thun: Die Medizininformatik ist per se erstmal kein männliches Feld in dem Sinne. Wenn ich mir meine Studentinnen und Studenten anschaute in den letzten zwölf Jahren, wo ich hier Professorin war in NRW und in Berlin, hatten wir eigentlich immer ein ausgeglichenes Verhältnis. Aber zu irgendeinem Zeitpunkt sind sie verschwunden, die Frauen. Und wir beschäftigen uns ja mit dieser Thematik in dem Netzwerk #SheHealth und in vielen, vielen anderen Frauennetzen, die sich dann wiederum alle vernetzt haben, mit der Frage, warum das so ist, wie wir das verbessern können und warum in den Führungspositionen ausschließlich, also zu hundert Prozent Männer in der Medizininformatik sind. Das ändert sich jetzt ein wenig. Also wir haben jetzt die ersten W3-Professorinnen in Deutschland. Wir haben eine sehr wichtige Leitungsposition jetzt besetzt im BMG mit einer sehr kompetenten Frau. Aber es ist leider noch sehr, sehr viel zu tun. Und da braucht es auch Forderungen an das BMBF, an das Forschungsministerium, dass man diese Projekte nicht mehr ohne Frauen durchführt. Weil es hat natürlich sehr viele Auswirkungen auch auf die Erfolge, die wir erzielen dann in Deutschland. Weil einerseits braucht man diverse Teams, das ist klar, die sind besser, und andererseits geht es natürlich auch darum, dass man die Frauengesundheit adäquat abbildet.
Seltmann: Gibt es da Defizite? Ist die Frauengesundheit in der digitalen Medizin weniger gut abgebildet als die Männergesundheit?
Sylvia Thun: Ja, Frauengesundheit ist ja sehr vielfältig, das geht ja bis in die Zelle, die unterschiedlich ist zu den männlichen Zellen. Und hier ist es tatsächlich so auch nachgewiesen, dass die Abbildbarkeit der Belange einer Frau zum Beispiel in klinischen Studien nicht gegeben ist, weil die Frauen unterrepräsentiert sind in klinischen Studien. Dasselbe gilt aber auch für die Daten, die dann generiert werden, oder die Daten, die dann eben zum Beispiel aus den Forschungsexperimenten in Zellen dann herauskommen. Und so ist es natürlich gefährlich für Frauen, wenn die Dosierung zum Beispiel eines Medikamentes nur anhand von Daten von Männern erfolgt. Und da kann man sich vorstellen, dass dann natürlich relativ viel passieren kann. Und dafür kämpfen wir. Und das ist nur ein Aspekt dieser vielen Dinge, die wir noch vorhaben in dem Netzwerk oder gemeinsam natürlich mit allen hier in Deutschland, um die Medizin auch für Frauen zu verbessern.
Seltmann: Frau Thun, Sie haben viele Preise und Auszeichnungen für Ihre Arbeit erhalten. Sie waren zum Beispiel schon ein digitaler Kopf des Bundesforschungsministeriums. Jetzt hat Ihnen der Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier das Bundesverdienstkreuz am Bande zuerkannt. Was bedeutet Ihnen diese Auszeichnung?
Sylvia Thun: Diese Auszeichnung sehe ich an als eine Auszeichnung für die weltweiten Aktivitäten dieses Netzwerkes. Ich bin jetzt eine Repräsentantin für diese Dinge, die wir in den letzten 20, 30 Jahren hinbekommen haben gemeinsam in unserer Freizeit meistens, dann technologisch umgesetzt haben, und ich freue mich extrem über diese Auszeichnung, weil sie doch zeigt, wie wichtig das Thema auch für die Bundesregierung mittlerweile geworden ist, und bedanke mich da ganz herzlich für diese Auszeichnung.
Seltmann: Und ich bedanke mich ganz herzlich für das Gespräch.
Sylvia Thun: Bitte schön.
Seltmann: Und das war der BIH-Podcast „Aus Forschung wird Gesundheit“ aus dem Berlin Institute of Health in der Charité, dem BIH. Professorin Sylvia Thun erklärte, was man unter Interoperabilität versteht und warum man sie braucht, wenn man medizinische Daten nutzen möchte. Falls auch Sie eine Frage zur Gesundheit oder zur Gesundheitsforschung haben, schicken Sie sie gerne an: podcast@bih-charite.de. Tschüss und bis zum nächsten Mal, sagt Stefanie Seltmann.